Winterthur Ethnologin - Hanna Rauber 14.01.2013 Bild : Marc Dahinden

Salon der Gruppen: Hanna Rauber und die Bhote-Khampa-Frauen in Nepal

Sie sei „die Frau der weiten Wege“. So wird an diesem Abend die Ethnologin Hanna Rauber vorgestellt. Mit ihren über 80 Jahren ist sie nicht nur von Zürich/Schweiz nach Berlin gereist, um im Frauenzentrum Paula Panke am 3. November 2023 über ihre Arbeit zu sprechen. Vor fast 50 Jahren hat sie auch die Händlernomad*innen der Bhote Khampa ein Jahr lang auf ihrer Handelsroute zwischen Indien und Tibet begleitet. Das bedeutete fast täglich 12 Kilometer Fußmarsch und insgesamt ca. 4000 Höhenmeter zu überwinden. „Das ist beachtlich“, bemerkt Ursula Geißler, die den Abend moderiert. Sie hatte Hanna für den Politisch-Philosophischen Dialog eingeladen  – eine von 12 Gruppen im Frauenzentrum Paula Panke. Im Format „Salon der Gruppen“ stellen sich die Gruppen bei Veranstaltungen vor.

Der Weg von Salz und Reis…

An diesem Abend ist es voll im Frauenzentrum. Menschen verschiedener Altersgruppen und Geschlechter sind neugierig auf das Leben der Bhote Khampa und die Arbeit von Hanna Rauber.
Seit ihrem Aufenthalt 1976/77 ist Hanna mit den Bhote Khampa verbunden, unterstützt und besucht sie. Aktuell sammelt sie Geld für eine Schule und einen Kindergarten. Denn seit 1990 sind die ehemaligen Händlernomad*innen sesshaft geworden. Die Umstände! Der Handel mit Reis und Salz zwischen Indien und Tibet wird nun schneller und preiswerter abgewickelt per Lastwagen auf der neuen Straße als auf den Rücken der Ziegen und Schafe der Bhote Khampa. Außerdem hatte China nun endgültig die Grenzen zu Far West Nepal geschlossen. „So treffen globale Veränderungen auch die kleinsten Personengruppen und verändern ihr Leben dauerhaft“, sagt Hanna. Weil die Händlernomad*innen bemerkten, dass ihre alten Traditionen nach und nach verlorengingen, baten sie Hanna, ihre Dokumentation über sie zu veröffentlichen. 2022 erschien das Buch „Of Salt and Rice“ in englischer Sprache.

Hannas Weg zu den Bhote Khampa

Doch wie kam es dazu, dass Hanna nach Nepal reiste? Die gebürtige Züricherin absolvierte zunächst eine Handelslehre, machte dann eine Ausbildung zur Bildhauerei. Die griechischen Statuen faszinierten sie. Sie wollte mehr wissen, Archäologie studieren. Dafür holte sie ihr Abitur nach und bekam ihren Studienplatz. Doch schnell hatte sie genug von griechischen Vasen. Ihr fehlte der Bezug zum Menschen. Deshalb wechselte sie zur Ethnologie. Hier entwickelte sich ihr Interesse für tibetische Gesellschaften und sie wollte Feldforschung machen wie ihre durchweg männlichen Forscher-Vorbilder. Doch ihr fehlte das Geld. So besuchte sie die Tibeter vor Ort, in der Schweiz. Das Land hatte 1960 tibetische Geflüchtete aufgenommen, welche in Rikon lebten, wo sich das Klösterliche Tibet-Institut befindet. Rauber interessiert sich für soziale Verhältnisse und schreibt deshalb ihre Dissertation über die Arbeit eines tibetischen Schmieds. Obwohl sie von den Mönchen die Tibetische Sprache gelernt hat, verstand sie erstmal nichts von dem, was die Bhote Khampa sprachen…

Aufgebrochen, um etwas zur Menschheitsgeschichte beizutragen

Mit einem Forschungsstipendium reiste sie 1976 nach Kathmandu, wartete dort 7 Wochen, bevor sie in die Region Far West Nepal einreisen durfte. Die politischen Verhältnisse. Wie ihre Familie das fand, dass sie als Frau allein für ein Jahr durch den Himalaya lief? „Meine Eltern fanden das seltsam. Mit meinem Mann hatte ich ein Agreement“, erklärt Hanna heute lapidar. Schließlich war sie aufgebrochen, um etwas zur Menschheitsgeschichte beizutragen. Doch für 1976 war das nicht nur in Europa besonders, auch in Tibet. So hatte sie einen Begleiter, der die Sprache der Bhothe Khampa sprach und von ihnen akzeptiert wurde.

Von gestohlenen Frauen, Batterien fürs Radio, Buttertee und Reisbier

Bei der ersten Begegnung mit den Bhote Khampa wird Hanna gefragt, ob sie eine Taschenlampe dabeihat. Der Übersetzer erklärt, dass sie die Taschenlampe brauchen, um eine Frau zu stehlen. Hanna ist verwirrt. Später erfährt, sie dass das Stehlen einer Frau bei den Bhote Khampa durchaus üblich ist, um eine unglückliche Zwangsehe zu beenden – ihre erste Erfahrung mit den sozialen Verhältnissen bei den Bhote Khampa. Viele sollten folgen.

Die Bhote-Khampa-Frauen bedauern Hannas Schwiegermutter sehr. Denn für die alltäglichen Arbeiten wie Wasser holen und Buttertee zubereiten ist sie nicht zu gebrauchen. Das lässt ihren sozialen Status sinken. Punkten kann sie an anderer Stelle: Als das einzige Radio eines Häuptlings nicht mehr ging, setzte sie einfach die Batterien richtig herum rein. Fortan genoss sie ein hohes Ansehen. 

Hanna erzählt, dass bei den Festen der Bhote Khampa reichlich Bier getrunken wurde, das aus Reis hergestellt wird. Während die Frauen der Bhote Khampa kein Bier tranken, sitzt Hanna mit bei den Männern. Sie erzählt, dass es sich in der Gesellschaft merkwürdig anfühlte weder als Frau noch als Mann gesehen zu werden.

Die Frauen der Bhote Khampa

Wir sehen Fotos und hören Tonaufnahmen von Hannas Forschungsaufenthalte. Sie zeigt uns die Bilder und erzählt uns die Geschichten der abgebildeten Personen – ganz besonders die der Frauen.

Die Gemeinschaft lebt in patriarchalen Verhältnissen. Die Frauen arbeiten viel, besonders die Schwiegertöchter unter den strengen Augen der Schwiegermütter. Ihre Kinder müssen sie abseits von der Gruppe allein zur Welt bringen. Denn alles andere würde Unglück bringen. Es ist ein hartes Leben mit strengen Regeln. Und das, obwohl sich die Bhote Khampa sich erst vor fünf Generationen zusammengefunden haben – eine Gemeinschaft, zusammengewürfelt aus Personen, die aus anderen sozialen Kontexten herausgefallen sind, z.B. als Strafe. Davon haben sie aber Hanna nicht viel erzählt, da ihrem Ansehen und dem ihrer Familie schaden würde. So war es für Hanna auch schwer herauszufinden, wie die Bhote Khampa in so kurzer Zeit eine so feste soziale Struktur aufgebaut haben.
Heute leben die Bhote Khampa anders. Die Familien sind sesshaft, die Frauen arbeiten, verdienen ihr eigenes Geld, entscheiden mit.

Immer wieder Bhote Khampa

Im Jahr 2010 reiste Hanna zurück zu den Bhote Khampa. Sehen, wie es ihnen geht. Niemand sehnt sich nach dem schweren Leben der Händlernomad*innen zurück. Die Kinder gehen zur Schule, manche studieren und leben weit weg. Und immer wieder bitten sie Hanna um Unterstützung.

Nach dem Vortrag enstand eine lebhafte Diskussion mit vielen Fragen aus dem Publikum – beispielsweise zu dem Thema, wie gewünscht ethnologische Forschung bei den „Beforschten“ ist. Wird die Forschung vielleicht auch nur höflich geduldet oder sogar abgewehrt? Hier hat Hanna Rauber tatsächlich auch Unterschiedliches erlebt. Spannend in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie das Eintreten von Forscher*innen in das Feld dasselbe verändert. Hier sprachen wir darüber, dass der eurozentrische Blick auf Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen wie z.B. die Bhote Khampa nicht unreflektiert bleiben darf. Die Händernomad*innen, die lange Zeit fast vollständig autonom – ohne Plastikmüll, Internet und Smartphone – überleben konnte, haben womöglich Kompetenzen, die in Zukunft wieder dringend benötigt werden. Wie fortschrittlich ist also der Fortschritt der Bhote Khampa hinein in die moderne, westlich geprägte Welt? Und wer bewertet, was „zivilisiert“, „entwickelt“ oder „fortschrittlich“ ist? Alles in allem also ein sehr spannender, informativer und zum Weiterdenken anregender Abend.

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