Gemeinsam mit den beiden in Chile geborenen Frauen Marcela Rojas und Ana Maria Villegas führte Astrid Landero ein spannendes Gespräch über deren Erfahrungen und Erinnerungen an die Flucht aus Chile in den 1970er Jahren in die DDR, dem Aufwachsen dort und die Transformationszeit nach 1989.
Für beide Frauen hatte der 11. September 1973, der Tag an dem das Militär in Chile die demokratisch gewählte Regierung putschte, große Konsequenzen für ihr weiteres Leben. Sowohl Ana Maria als auch Marcela waren zu diesem Zeitpunkt erst sieben Jahre alt. Beide erzählen, wie sich eigene Erinnerungen dieses Tages und der folgenden Zeit mit Erzählungen und Berichten anderer vermischten.
Zeit des Umbruchs, Zeit der Flucht
Ana Maria erinnert sich noch daran, dass ihr Vater sich sofort verstecken musste, da er für eine kommunistische Zeitung arbeitete. Stark eingeprägt hat sich bei ihr, wie ihre Familie ihren Vater, der sich bei Freunden versteckte, heimlich besuchen ging. Da ihr Vater Auslandskorrespondent war und dadurch Beziehungen zur DDR hatte, floh er kurze Zeit später über Peru in die DDR. Die Familie kam im Dezember nach.
Auch Marcela berichtet, dass der Putsch vor allem für ihren Vater direkte Folgen hatte. Sie erinnert sich daran, wie dieser auf einmal nicht mehr zu Hause war. Sie begriff intuitiv, dass er verhaftet worden war. Ihre Mutter fand ihn schließlich im Gefängnis, wo er gefoltert worden war. Mithilfe eines Rechtsprofessors schafften sie es, ihren Vater Anfang 1974 aus dem Gefängnis zu holen. Nach vielen Umwegen, Familientrennungen und einer kurzen Zeit in der DDR, folgte ein Jahr Aufenthalt in Kuba. Schlussendlich landete Marcelas Mutter mit ihren Töchtern wieder in der DDR.
Beide Frauen haben diese Zeit des Umbruchs und der Unsicherheit als sehr bewegende und prägende Zeit wahrgenommen. Sie mussten nun einen Neuanfang in einem fremden Land wagen.
Ankommen in einem fremden Land
Marcelas Familie kam zunächst in ein Heim, in dem nur Chilen*innen waren, und erzählt von einer großen Solidarität in der DDR den Menschen aus Chile gegenüber. Gemeinsam wurde überlegt, wo Leute leben und arbeiten können, Konfrontationen fanden nicht statt. Doch sie erinnert sich auch daran, wie schwierig die Zeit war, als viele verstanden, dass sie nicht bald nach Chile zurückkehren konnten, sondern hierbleiben mussten. Die Koffer, die seit der Ankunft nicht ausgepackt worden waren, mussten nun doch ausgeräumt werden.
Ana Maria wurde in der DDR im Gästehaus Märkisches Museum untergebracht. Dinge, die sie als Kind oft spielerisch nehmen konnte und neugierig entdecken konnte, waren für ihre ältere Schwester deutlich schwerer: Aus dem normalen Alltag herausgerissen zu werden, plötzlich völlig anders zu leben, weit weg von Freund*innen und allem Bekanntem.
Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung
Auch den Erwachsenen, stark traumatisiert und unfähig über die Dinge, die ihnen in Chile widerfahren waren, zu sprechen, fiel das Eingewöhnen in dem fremden Land schwer. Da die Kinder sich trauten, auf andere zuzugehen und dadurch die deutsche Sprache lernten, fungierten sie schnell als Dolmetscherinnen ihrer Eltern. Beide Frauen erzählen, dass die Erwachsenen trotz gut organisierter Integration und Angeboten, häufig die deutsche Sprache aus einem Selbstschutz heraus nicht lernen wollten: Sie wollten doch gar nicht hierbleiben, sie wollten so schnell wie möglich zurück nach Chile. Ein Erlernen der neuen Sprache hätte bedeutet, zu akzeptieren, dass sie hier bleiben mussten. Doch zurück nach Chile konnten sie nicht, denn ihre Reisepässe waren mit einem „L“- Stempel gekennzeichnet: Wer diesen Stempel hatte, durfte nicht nach Chile einreisen.
Die chilenische Herkunft soll nicht vergessen werden
Um den Bezug zu ihrem Geburtsland nicht zu verlieren, organisierten die Eltern chilenischer Kinder eigene politische und akademische Strukturen: Beispielweise mussten Marcela und Ana Maria neben dem Regelunterricht zusätzlich jeden Tag zwei Stunden mit chilenischen Lehrer*innen lernen. Sogar Prüfungen in Spanisch, Geschichte und Geografie Chiles mussten sie ablegen.
Beide Frauen machten schlussendlich ihr Abitur in der DDR, studierten dort und ergriffen einen Beruf in der DDR.
Neue Umbrüche und die Frage der Rückkehr
Im Jahr 1989 kam es zu erneuten Veränderungen für die beiden Frauen und ihre Familien: Im April 1989 kehrten Marcelas Eltern zurück nach Chile, die nach dem Plebeszit zum Ende der Diktatur 1988 wieder einreisen durften. Marcela, die zuerst zu Ende studieren wollte, entschied sich auch nach dem Studium, in der DDR zu bleiben.
Ana Marias Eltern kamen nicht so euphorisch von ihrem ersten möglichen Besuch aus Chile wieder. 1992 gingen sie dennoch ohne ihre Kinder zurück nach Chile. Was Marcela schwer fiel, war für Ana Maria ganz leicht: Nahtlos ging ihr Studium in einen Job über, sie blieb.
Beide Frauen blieben somit in der DDR, auch wenn ihre Familien sich entschieden hatten, zurück nach Chile zu gehen. Als Marcela und Ana Maria Chile verließen, waren sie noch Kinder, die meiste Zeit ihres Lebens hatten sie in der DDR verbracht – wo waren sie nun endgültig zu Hause?
Die Frage nach der Heimat
Zum Ende des gemeinsamen Gesprächs hin stellte Astrid beiden die Frage, was Heimat für sie nun bedeutet. Den Frauen fiel eine Antwort auf diese Frage schwer. Einig waren sie sich darin, dass sie sich nicht als ‚Deutsche‘ bezeichnen würden, dass sie sich in Chile mittlerweile aber auch zum Teil als ‚Ausländerin‘ fühlten.
Sie kommen zu dem Schluss, dass ein bestimmter Ort vielleicht gar nicht das wichtigste ist. Vielmehr geht es darum, wo man glücklich ist und wo die passenden Menschen sind, denn die eigene Kultur trägt man immer in sich, egal, wo man sich gerade befindet.