von Anna Anger
In ihrem Essay „Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen“ greift die schweizerische Schriftstellerin Mona Chollet stereotype Charakterisierungsmerkmale auf, die im Mittelalter zur Erkennung von mutmaßlichen Hexen genutzt wurden und verknüpft sie mit der gesellschaftlichen Konstruktion der Frau* des 21. Jahrhunderts. Ihr Werk wurde im Rahmen der Reihe „Nautilus Flugschrift“ des Verlages Edition Nautilus herausgegeben und aus dem Französischen von Birgit Althaler übersetzt. Die deutsche Erstausgabe erschien im März 2020.
Worum geht es?
Mit der Einleitung, in der die Autorin einen kurzen Überblick über die Hexenverfolgung in Europa und Nordamerika bis hin zum Eingang der Hexen in die Popkultur und der Wiederbelebung des Hexenkults als feministisch-politische Vereinigung gibt, spannt sie den Bogen zu der großen Frage des Hauptteils: Wie prägten die Wesenszuschreibungen und der Frauenhass der mittelalterlichen Hexenverfolgung, bei der hunderttausende Frauen* ermordet wurden, das Frauen*bild unserer heutigen Zeit?
Anhand der vier großen Pfeiler:
- „weibliche Unabhängigkeit“,
- „Kinderlosigkeit“,
- „Alter“ und
- „die Beziehung von Frauen* und Naturwissenschaft“
erarbeitet Mona Chollet die Verbindung der Ereignisse der Vergangenheit, ihren geschlechtsspezifischen Charakter und identitätszuschreibende Tragweite, welche lange Zeit von vielen Historikerinnen ignoriert wurde. Sie schildert sachlich und schmerzlich zugleich, wie patriarchale Strukturen und Denkweisen damals wie heute über die Wahrnehmungen von Frauen in der Gesellschaft bestimmen und wie wenig sich bisher an diesem Bild verändert hat.
Wer waren die vermeintlichen Hexen?
Im 16. und 17. Jahrhundert verfolgte man(n) besonders Frauen*, die unverheiratet, verwitwet oder arbeitstätig waren. Auch kinderlose Frauen* und Frauen*, die ungewollte Schwangerschaftsabbrüche unterstützten, wurden des Paktes mit dem Teufel verdächtigt.
Alternde Frauen* riefen ein allgemeines gesellschaftliches Unbehagen hervor, aus dem die Walt Disney Company bis heute Inspirationen für unzählige Hexenfiguren in ihren Kinderfilmen schöpft.
Frauen*, die als Heilpraktikerinnen* agierten und sich aktiv an medizinischen und naturwissenschaftlichen – damals wie heute ein immer noch überwiegend von Männern dominiertes Gebiet – Prozessen beteiligten, machten sich der Anwendung von Magie strafbar und wurden verfolgt, gefoltert und getötet.
Lese-Empfehlung
Mit gut recherchierten Quellen und Beispielen versehen, belegt der Essay die Auswirkungen der Hexenverfolgung und der damit verbundenen Unterscheidung zwischen vermeintlich guten und bösen Frauen* auf das (Ideal)bild der Frau*, das heute noch durch gesellschaftliche Regeln aufrechterhalten wird.
Mona Chollets Text spiegelt hierbei mit journalistischem Anspruch eine Realität wider, welche die Geschichtsbücher bisher ausblendeten. Es ist ihr dadurch auch nicht zu verübeln, dass der Ton des Textes hier und da einmal etwas wütender ausfällt.
Wer sich von dem Text eine ausführliche Ausarbeitung der Hexenverfolgungen im Europa und Nordamerika des 16. und 17. Jahrhunderts oder einen Einblick in die Hexenbewegungen der des 21. Jahrhunderts erhofft, wird leider enttäuscht.
Dennoch lohnt sich das Lesen sehr und regt dazu an, eingebrannte Rollenbilder zu überdenken und sich mehr mit den wunderbaren Mächten der Frauen* auseinanderzusetzen.
Anna Anger (*1994) studiert Interdisziplinäre Lateinamerikastudien an der Freien Universität Berlin. In ihrem Studium belegt sie das Profil zu Geschlechterstudien und sozialen Transformationsprozessen. Von Dezember 2019 bis März 2020 absolvierte sie in unserem Frauenzentrum Paula Panke ein Praktikum. Sie hört gern feministischen Hip-Hop, liebt es (v.a. gegen Männer) im Schach zu gewinnen und kauft oft Schmuck, ohne ihn je zu tragen…