Immer mehr Frauen sowie trans*, inter* und nicht-binären Personen (FLINTA*) aus allen Schichten unserer Gesellschaft sind von Suchterkrankungen betroffen. 2020 stiegen in der Corona-Pandemie die Verkaufszahlen von Alkohol in Deutschland um ein Drittel. Im gleichen Jahr starben 19.000 FLINTA* an Ursachen, die mit ihrem Alkoholkonsum zu tun hatten. Ein Grund für uns, im Rahmen unserer aktuellen Gesundheitsreihe „Feministische Perspektiven auf Gesundheit“, da einmal genauer hinzusehen.
Zu unserem Paula Talk am 20. September 2023 haben wir Gabriele Zimmer und Madleen Schwaab eingeladen. Wir sprachen über ihre Arbeit bei Violetta Clean, der therapeutischen Wohngemeinschaft für FLINTA* mit Suchtproblemen des Vereins FrauSuchtZukunft. Sie bieten den Bewohner*innen individuelle Unterstützung bei der Entscheidung für ein suchtmittelfreies, selbstbestimmtes Leben. Violetta Clean nimmt ausschließlich FLINTA* auf, die ernsthaft aus dem Konsum aussteigen wollen. Das Angebot richtet sich nicht nur an alkoholabhängige FLINTA*, sondern an alle Suchtmittelabhängige von Medikamenten über Heroin bis Crystal Meth.
Wichtigste Aufgabe: Alltag trainieren
In der Wohngemeinschaft in einem Haus mit Garten im Grunewald können bis zu acht FLINTA* gleichzeitig wohnen. Hier trainieren sie unter Anleitung der drei Betreuer*innen das Alltagsleben. Gemeinsam erledigen sie die Haus- und Gartenarbeit sowie einfache handwerkliche Tätigkeiten. Sie essen zusammen und unterstützen sich gegenseitig. In der Woche besuchen sie verschiedene Gruppenangebote des Vereins wie Yoga oder die Manufaktur in Berlin-Weißensee.
Sucht ist eine Krankheit, keine Willensschwäche
Die Bewohner*innen können sich frei bewegen. Nur ihr Suchtmittelkonsum wird kontrolliert. Werden sie rückfällig, ist das kein Problem, sofern sie damit transparent umgehen. „Sucht ist eine chronische Krankheit und kein Ausdruck von Willensschwäche“, betont Gabriele Zimmer, die Leiterin von Violetta Clean. „Die Frauen sollen mit unserer Hilfe lernen, mit ihrem Suchtdruck umzugehen und Alternativen zum Suchtmittel zu finden, das ihnen in schwierigen Situationen vermeintlich geholfen hat.“ Die Bewohner*innen bleiben 12 bis 24 Monate in der Wohngemeinschaft. Sie kommen aus allen Schichten unserer Gesellschaft. Der Kontakt zur Familie und Kindern wird ausdrücklich gefördert. An den Wochenenden können Kinder in der Wohngemeinschaft mit übernachten.
Suchtverhalten ist geschlechtsspezifisch
Warum FLINTA* zu Suchtmitteln greifen, hat tiefliegende gesellschaftliche und soziale Ursachen. Sie konsumieren aus anderen Gründen als Männer „als Antwort auf eine Situation, in der das Verhältnis von Belastbarkeit und Belastung aus dem Gleichgewicht geraten ist“, schreiben die Pionier*innen der geschlechtsspezifischen Suchttherapie Anke Wevers, Colet van der Ven und Anja Meulenbelt in ihrem Buch „Frauen und Alkohol“ von 1994.
Eva Biringer schreibt in ihrem Buch „Unabhängig“ von 2022: „Auch jenseits der Familienplanung sind die in unserer Gesellschaft an eine Frau gestellten Ansprüche kaum zu erfüllen. Sie soll dem Schönheitsideal entsprechen (…) still und ohne Arbeitsausfall menstruieren (…) klug sein, aber Männer nicht in Verlegenheit bringen (…) arbeiten, aber nicht so, dass es ihre Pflichten als unbezahlte Haushaltskraft und Mutter behindert (…) sexy, aber nicht zu sehr, außerdem emotional und selbstlos…“ Der Katalog ließe sich fortsetzen.
Hinter dem Suchtverhalten steckt zudem eine Sehnsucht und ein Bedürfnis nach Zuneigung. Daher bietet Violetta Clean den Frauen eine Grundausstattung an Fürsorglichkeit.
Sucht und Gewalt – ein Teufelskreis
Gabriele Zimmer berichtet, dass die Erfahrung von Gewalt in unterschiedlicher Ausprägung eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob FLINTA* suchtmittelabhängig werden. Die meisten FLINTA*, die Hilfe bei FrauSuchtZukunft suchen, haben Gewalt in Familie oder Partnerschaft erlebt. Meist kommen sie aus schwierigen Familien und reproduzieren gelernte Verhaltensweisen. Hier arbeitet Violetta Clean mit einem Selbsthilfeansatz. Die Frauen unterstützen sich also gegenseitig und sind füreinander da.
Die Verbindung von Sucht und Gewalt ist leider ein Teufelskreis. Denn einerseits triggert Gewalt den Drogenkonsum und andererseits finden FLINTA*, die suchtmittelabhängig und von Gewalt betroffen sind, keine Aufnahme in Frauenhäusern und Zufluchtswohnungen. „Das ist eine Lücke in der Versorgung“, betont Gabriele Zimmer. Dabei passt Drogenkonsum nicht zum Rollenbild von FLINTA* in unserer Gesellschaft. Deshalb konsumieren sie eher im Geheimen. Auch reagieren ihre Körper anders auf Suchtmittel als männliche. Der Konsum triggert bei FLINTA* Angst und Depressionen. Sie werden schneller abhängig und sterben schneller.
Wann wird der Konsum zur Sucht?
Gabriele Zimmer erklärt, dass man von Sucht sprechen kann, wenn die Betreffende ihren Alltag um die Befriedigung ihres Konsumbedürfnisses herum plant. Madleen Schwab, eine Sozialarbeiterin von Violetta Clean, hebt hervor, dass es durchaus weitreichendes und weniger auffälliges Suchtverhalten gibt wie z.B. Zuckersucht oder Kaufsucht, aber auch Magersucht zählt dazu. Damit ist das Phänomen der Sucht sehr tief in unserer Psychologie verankert und hat immer damit zu tun, dass damit ungute Gefühle kompensiert werden sollen.
Der Ausweg aus der Sucht
Durch das gemeinsame Wohnen und Arbeiten können die Frauen wieder Vertrauen in sich selbst aufbauen und ihren Selbstwert stärken. Wichtig ist, dass alle Gefühle gefühlt werden, sodass die Bewohner*innen die Erfahrung machen können, dass alle Gefühle aushaltbar sind und nicht betäubt werden müssen. „Das Schlimmste ist vorbei“, sagen die Mitarbeiter*innen von Violetta Clean den FLINTA*, sobald sie in der Wohngemeinschaft leben. Diese bietet einen sicheren Ort zum Neuanfang.
Hier finden Betroffene* Informationen, Hilfe und Unterstützung
FAM: Alkohol- und Medikamentenberatungsstelle
StoffBruch: Beratung, unterstützende Angebote bei Substanzkonsum, ambulante Suchttherapie
Frauenladen: Drogen- und Suchtberatung
Online-Beratung für konsumierende Frauen*, Mädchen/Jugendliche, Mütter*, Angehörige*
Violetta Clean – Therapeutische Wohngemeinschaft für Frauen* mit Suchtproblemen