Der Auftakt zu unserer neuen Bildungsreihe „Stark. Feministisch. Gesund? Feministische Perspektiven auf Gesundheit“ am 10. März 2023 im Frauenzentrum in Paula Panke hat ein breites Spektrum an Themen aufgemacht, die alle miteinander in Verbindung stehen. Gemeinsam mit unseren Gästinnen haben wir einige punktuell greifbarer gemacht.
In drei Panels kamen wir mit verschiedenen Expertinnen ins Gespräch:
- In Panel 1 ging es um medizinische Perspektiven auf Gesundheit. Zu Gast waren Dr. Susann Bräcklein, Rechtsanwältin im Medizinrecht, und Dr. Ines Scheibe, langjährige Beraterin in der Schwangerschaftskonfliktberatung und Aktivistin im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung.
- In Panel 2 ging es um rassismuskritische Perspektiven auf Gesundheit. Zu Gast war Marita Obregoso Alvarez, Projektleiterin bei MigraUp in der Trägerschaft von Source d’Espoir. Moderiert wurde das Gespräch von Linda A. Davis, Aktivistin bei fembi e.V.
- In Panel 3 ging es um prekäre Arbeit und Finanzen mit Blick auf Gesundheit. Zu Gast waren Daria Lewandowska, Gründerin des Netzwerks Moneysisters, und Katharina Florian, Gründerin des Social Entrepreneurship Kehrwork.
In den drei Panels gab es ernüchternde Einblicke in die Defizite der aktuellen Gesundheitsversorgung weiblich gelesener Personen, die durch Kriterien wie Queerness oder migrantische Herkunft noch verschärft werden.
Sag mir, wo die Frauen sind!
Das fängt bei den spezifischen Versorgungsdefiziten von Frauen an, weil weibliche Organismen anders funktionieren und es daher zu Unter- und Fehlversorgungen kommt, die zu einer höheren Sterblichkeitsrate bei bestimmten Krankheitsbildern wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen führt. „Da die Leitlinien für Männer ausgeschrieben sind, gibt es hier auch keine Aussicht auf rechtliche Entschädigung“, unterstreicht Medizinrechtlerin Susann Bräcklein. Sie weist nicht nur auf weitere Problematiken wie das sehr komplexe und unübersichtliche Gesundheitssystem in Deutschland hin, sondern auch auf zusätzliche Defizite:
- Die Ansprache im Gesundheitssystem ist weiterhin männlich.
- Die Ebene der Entscheider ist männlich besetzt. (Sag mir, wo die Frauen sind!)
- Es gib keine Modelle für gendersensible Forschung.
- Es gibt weniger weibliche als männliche Studienteilnehmer*innen.
- Es gibt keine gendersensiblen Arzneihinweise (Fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker).
- Trotz bekannter höherer Lebenserwartung von Frauen gibt es keine spezifischen Versorgungsmodelle für die Pflege in dieser Lebensphase.
Einen Schwangerschaftsabbruch muss frau sich leisten können Auf die spezifischen und sich verschärfende Versorgungsengpässe bei Schwangerschaftsabbrüchen weist Ines Scheibe hin. In der Ausbildung von Mediziner*innen gehört Abtreibung nicht zum Standard. Student*innen an der Charité beispielsweise organisieren mithilfe der Organisation Doctors for Choice die Ausbildung selbst. Bundesweit gibt es eine große Versorgungslücke von Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen können und wollen. „Man muss es sich leisten können, für einen Abbruch weit wegfahren zu können“, sagt Ines Scheibe und ergänzt: „Ob ein Eingriff vorgenommen wird, ist an den Kliniken nicht einklagbar.“ Viele männlich geführte Krankenhausleitungen lehnen Schwangerschaftsabbrüche ab.
Das Gesetz, das seit über 150 Jahren einen Schwangerschaftsabbruch zur Straftat erklärt, wurde von Männern gemacht. Viele Frauen haben seither illegale Schwangerschaftsabbrüche mit gesundheitlichen Folgen und sogar mit ihrem Leben bezahlt. Seit 1995 gilt in der Bundesrepublik die Freistellung von Strafe unter bestimmten Bedingungen, u.a. der notwendigen Beratung und einer dreitägigen Wartezeit danach. Mit der Beratungsbescheinigung darf dann der Abbruch von einer Fachkraft durchgeführt werden. Die Beratungsstellen der katholischen Kirche stellen allerdings keine Beratungsscheine aus.
Ein erster Erfolg ist immerhin die Abschaffung von §219a im Jahr 2022, betonte Ines Scheibe. Zuvor war bereits die Information zu Schwangerschaftsabbrüchen strafbar. Das war ein Gesetz aus der Zeit des Nationalsozialismus, nach dem die Ärztin Kristina Hänel noch 2017 verurteilt wurde
Ständige rassistische Erfahrungen sind eine hohe Belastung für die Gesundheit
„In der Community kann ich sein wie ich bin und das ist gesund für mich“, sagt Marita Obregoso Alvarez. In einem rein weißen Kreis, erzählt sie, fühle sie sich unsicher, weil deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Das ist die Erfahrung vieler Migrant*innen. Für Marita ist immer wieder bemerkenswert, dass sie dennoch ganz anders akzeptiert und wahrgenommen wird, weil sie auch englisch spricht. Die Perspektive von Deutschen auf Migrant*innen sei oft abwertend, weil deutsche Sprachkenntnisse fehlten. Das Verlangen Deutsch zu lernen sei viel zu oft die einzige Intervention zur Integration. Hier brauche es mehr Empathie und Verständnis für einen anderen Rhythmus und andere Erfahrungen für Menschen, die aus anderen Ländern kommen. Denn Migrant*innen haben eine Menge Ressourcen, von denen Deutsche auch lernen könnten.
Ständige rassistische Erfahrungen dagegen erzeugen Stress und sind daher eine hohe gesundheitliche Belastung. Der permanente Druck, es könnte zu rassistischen Übergriffen kommen, ist sehr belastend. Das unterstreicht auch Moderatorin Linda mit Blick auf ähnliche Erfahrungen in der queer-trans Community. Ständige Diskriminierungen führen nicht nur zu psychischen, sondern auch zu physischen Problemen.
Migrantische Communitys helfen Klassismus aufzubrechen
Notwendig sei, eine diverse Gesellschaft zu schaffen, auch in Entscheidungspositionen. Mit Blick auf Gesundheit heißt das, rein weiße Ärzt*innen erkennen oft die Problemlagen migrantischer Personen, nicht, weil sie sie nicht kennen und erleben. Das liegt auch daran, dass die Bildung in Deutschland sehr eurozentristisch ist, betont Marita.
Hier helfen die im Land lebenden migrantischen Communitys. Sie stellen nicht nur ein unglaublich breites Wissen bereit, sondern helfen auch Klassismus aufzubrechen.
“Migrant*innenorganisationen helfen, Unterschiede zu minimieren und Gemeinsamkeiten zu finden. So können sich eine Ärztin und ein Straßenkehrer, die in ihrem Herkunftsland keinen Kontakt hatten, in Berlin in der Gemeinschaft einer Community wiederfinden. Das ist eine Option, die nur die Gemeinschaft bietet. “
Alles hat mit Finanzen zu tun
„So wie wir Geld behandeln, behandeln wir uns auch selbst“, sagt Finanzcoachin Daria Lewandowska. Ihr Anliegen ist es, Frauen zu ermutigen, sich mit ihren Vorstellungen über Geld auseinanderzusetzen. Denn alles hat mit dem eigenen Finanzverhalten zu tun. Finanzieller Druck kann zu mentalem Stress und Symptomen von Burn-out führen.
Katharina Florian kann das nur bestätigen. Die Gründerin von Kehrwork, einem Social Entrepreneurship in Pankow, sorgt für existenzsichernde Arbeitsplätze in der Reinigungswirtschaft. In ihrem Team sind Frauen, die mehrere Jahre 60 Stunden in der Woche gearbeitet haben. „Sie leiden unter einer Grunderschöpfung, weil ihre Immunsysteme ‚runtergerockt‘ sind.“
Bei ihrer Suche nach einer privaten Reinigungskraft hat sie festgestellt, dass 90 Prozent der Berliner Wohnungen in Schwarzarbeit gereinigt werden. 98 Prozent der Reinigungskräfte, die illegal arbeiten, sind Frauen. „Frau kann sich nicht leisten so zu arbeiten“, ist Katharina überzeugt. Daher arbeiten die Angestellten bei ihr nur 30 Stunden in der Woche, um Zeit für sich, ihre Gesundheit und die eigene Weiterentwicklung zu haben.
Eigentlich braucht sie eine Sozialarbeiterin, um die Bedarfe ihrer Mitarbeiterinnen professionell bearbeiten zu können. Katharina hat beispielsweise festgestellt, dass die Frauen aus jahrelanger Erfahrung heraus Angst haben sich krank zu melden. Existenzangst. „Angst geht da mit durchs Leben und Angst macht krank.“
Daria ergänzt: „Wir leben leider in einem Gesundheitssystem, das erst greift, wenn ‚das Kind schon in den Brunnen gefallen ist‘, also nicht präventiv.“ Das bedeutet, Betroffene müssen erst zusammenbrechen, bevor sie Hilfe bekommen. Die wenigsten sorgen vorher für sich im Sinne von ‚Was bin ich (mir) wert‘ und ‚Welche Therapie kann ich mir leisten‘. Deshalb arbeitet Daria bei MoneySisters mit Frauen an ihren Glaubenssätzen, mit denen sie sich oft kleiner machen, als sie sind – Stichwort Imposter-Syndrom. Sie möchte Mythen auflösen wie z.B., dass shoppen glücklich macht. „Es geht darum, Strukturen grundsätzlich zu hinterfragen: Was brauchst du eigentlich? Ich möchte, dass Frauen Selbstwirksamkeit erleben.“