Das Wagendorf oder „Ich wollte einfach mal wieder mit den Füßen auf dem Boden stehen“
„Drei Wagen habe ich.“ erklärt uns Sylli stolz. Sylli ist Industriekletterin und wollte einfach mal wieder mit den Füßen auf richtigem Boden stehen und hatte es satt, in einer engen Wohnung auch noch die Nachbarn über, unter und neben sich hautnah zu spüren. Die Hälfte ihres Verdienstes und ihrer Lebensqualität ging dabei drauf und so nahm sie ihre Tochter und zog in das Wagendorf, das sich in der Nähe von Karow befindet. „Alleine mit Kind, da hat man hier einfach gewonnen“.
Spielplatzbesuche und Betreuungsprobleme fallen weg, da der soziale Zusammenhalt funktioniert und schließlich das ganze Wagendorf ein Spielplatz sein kann. Aber wie ist es denn nun im Winter? Na warm, kommt die einstimmige Antwort. Geheizt werden die Wagen mit alten Werkstatt- und Bauwagenöfen und mit Holz. Die Herausforderung besteht darin, den Wagen winterfest zu machen. Das schafft nicht jeder und es bedarf handwerklicher Fähigkeiten, um sich in einem Wagendorf zu behaupten. Zu guter Letzt entscheiden die zukünftigen Nachbarn und die Mehrheit der Bewohner, wer als Neues auf einen Stellplatz darf. Wie viele Leute dann auf einem Stellplatz leben, ist nicht festgelegt, dafür aber die Miete: 110,00 €- Strom und Wasser extra. Die Miete bekommt der Besitzer des Landes, das Bezirksamt Pankow.
Eine ungeahnte Facette von Wagenarchitektur erschließt sich vor uns. Immer wieder gibt es etwas zu entdecken, ob es die regellose Anordnung von Fenstern ist, die Farbgebung einzelner Wagen, witzige Anbauten oder verträumte Gärten, in denen kleine Gewächshäuser stehen. Der einzige Nenner in der Form ist die Vielfalt.
Als wir austreten müssen, werden uns die Plumsklos zugewiesen. Iris hat sogar eine Toilette im Haus. Wir könnten auch irgendwo in das Gras pieseln, es störe niemanden. Wir probieren es und erinnern uns an unsere Kinderzeiten. Bei der Suche nach einem gemütlichen Platz zum Verrichten meines Bedürfnisses, entdecke ich ein Sonnendach und darunter ein Tisch en miniature mit 12 Stühlchen. Es stellt sich heraus, dass dies der Kindergarten ist, den Bewohner gegründet haben. Das Glück der Kinder besteht darin, den ganzen Tag draußen zu sein. Selbst aus Berlin bringen die Eltern ihre Kinder her. Und die Kinder von hier gehen auch auf die Schulen in Berlin. Damit sind Besucher vorprogrammiert, was einen lebendigen Austausch mit anderen Lebensformen verspricht.
Das größte Problem sind die unterschiedlichen Musikbedürfnisse oder Schlafrhythmen der Bewohner. Während die einen gern die Nacht zur Erholung nutzen wollen, ist sie für andere ideal, um die neuesten elektronischen Tapes auf 80 Dezibel zu hören und dafür am Tage zu schlafen.
Gefragt nach dem besten am Wagendorfleben, beantworten alle Befragten mit dem „vor die Tür treten und im Grünen sein“, der Gemeinschaft und eigener Gestaltung des Wohnumfeldes, was innerhalb der Stadt nur Gutverdienern und Erbbegünstigten vorbehalten ist.
Eva Gerlach, Mai 2011